29.06.2023 10:55 Alter: 312 days
Kategorie: Deutsch, fb1

Schattenreiche – OVAG-Jugend-Literaturpreisträgerinnen stellen ihre Geschichten vor.

Lesung von Masa Alnomani, Seba Habibyar und Marie Middendorf in der Ernst-Ludwig-Schule


Die Coronajahre sind gerade vorbei, Kriege finden an anderen Orten statt und die dräuen-den ökologischen Katastrophen lassen sich noch verdrängen - da könnte man meinen, dass jugendliche Autorinnen in ihren Texten noch einmal ein Loblied auf das Leben anstimmen und ihr Publikum auf emotionale Höhenflüge mitnehmen. Nichts von alledem. Die Preis-trägerinnen des OVAG-Jugend-Literaturwettbewerbs 2022 inspizieren die dunklen, bluti-gen, beängstigenden Schmuddelecken des Lebens. In einer Lesung präsentierten am 23. Mai Masa Alnomani, Marie Middendorf und Seba Habibyar Schüler*innen sowie Mitglie-dern der Lehrerschaft und der Schulleitung ihre prämierten Erzählungen. Schulleiterin Uta Stitterich hob mit besonderem Stolz hervor, dass mit Masa und Marie erneut Schülerinnen der Ernst-Ludwig-Schule zu den Preisträgerinnen gehören. Die OVAG richtet den Literatur-preis für Jugendliche und junge Erwachsene aus und bietet den Gewinner*innen, einen Geldpreis, vor allem aber die Chance, in einem mehrtätigen Literatur-Workshop mit Hilfe von renommiertem Autor*innen ihr literarisches Können zu verbessern.

Masa Alnomani (geboren 2004) lenkte mit ihrer Geschichte die Aufmerksamkeit der Zuhö-rer:innen auf Syrien – ein Land, in dem seit 12 Jahren ein Bürgerkrieg tobt, viele Menschen unter elenden Bedingungen leben und wenig Hoffnung auf Frieden besteht. In unseren Medien ist das Leiden in Syrien kaum noch präsent. Masa Almonani lässt in ihrer Geschichte die Opfer von Folter zu Wort kommen und zeigt, welche Verwüstungen das Erleben von Gewalt in der Seele von Menschen hinterlässt. Der Text ist an vielen Stellen nur schwer auszuhalten - aber vielleicht ist dies auch die einzig angemessene Weise, über einen in Europa nahezu vergessenen Krieg zu berichten.  

„Niemand mag Streber“, konstatiert Marie Middendorf (geboren 2006) in ihrer Geschichte „In der Quersumme“. Die Schülerin erzählt hier von den Macken und Problemen Hochbegabter. Luxusprobleme!, mag da der mittelmäßig Begabte denken und mit klammheimlicher Freude die ungeliebten Besserwisser scheitern sehen: Wie sie weinen, wenn sie mal „nur“ die Note 2 bekommen; wie sie sich selbst isolieren, weil sie keine Empathie zeigen können und wie sie dann - trotz aller Intelligenz - im schulischen Leistungswettkampf versagen. Allerdings bleibt die Frage offen: Wieso schafft es das System Schule nicht, diese Schüler*innen zu integrieren? Eine mögliche Antwort auf diese Frage wäre, dass Schule eine Selektiermaschine ist, durch die jene am besten flutschen, die sich besonders gut anpassen können und wenig Raum für geistige und persönlichen Entfaltung brauchen. Das mag zumindest die Hauptfigur in Marie Middendorfs Geschichte denken – eine Reinigungskraft, die die Bahnhofshalle fegt, regelmäßig einen teilnehmenden Blick auf die einsam herumstehenden hochbegabten Schüler*innen wirft und dabei gleichzeitig akribisch die Bodenfliesen zählt.

Eine ein Meter dicke Glaswand steht auch zwischen der Ich-Erzählerin aus der Geschichte von Seba Habibyar (geb. 2001) und dem Rest der Welt. Die ehemalige St. Lioba Schülerin, die heute Jura in Frankfurt am Main studiert, lässt eine Ich-Erzählerin zu Wort kommen, die mit vielfältigen Verletzungen zu kämpfen hat. Eine gestörte Vater-Tochter Beziehung und die Erfahrung von Body Shaming treiben die Protagonistin in ein Schattenreich, aus dem sie sich am Ende befreien wird. Seba hat ihre Geschichte all jenen gewidmet, die mit ihren eigenen Schatten zu kämpfen haben.

Die Geschichten sämtlicher Preisträger des OVAG-Jugend-Literaturwettbewerbs 2022 sind in einem Sammelband herausgegeben, den sich Interessierte in der ELS-Bibliothek ausleihen können.

M. C. Schachl