Kindern helfen - ohne Pillen

aus: Psychologie Heute 9/2008, Seite 36 | Rubrik: Aufmerksamkeitsstörung


Rund 500.000 Kinder sollen mittlerweile in Deutschland am Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leiden. Mehrheitlich werden sie mit Medikamenten behandelt, weil Schulmediziner die Ursache in einer genetischen Fehlfunktion des Gehirns sehen. Doch zunehmend formiert sich Kritik: Psychotherapeuten machen frühe Erfahrungen und Umweltbedingungen für ADHS verantwortlich und verzeichnen erste Erfolge mit alternativen Behandlungsansätzen

„Wenn Sie dreimal den Berg heruntergefallen sind“, sagt die achtjährige Elvira zu Psychotherapeut Frank Dammasch, „dann wollen Sie wieder nach oben kommen. Warum dann überlegen?“ „Um herauszubekommen, wie man nicht mehr fällt?“, schlägt Dammasch ein. Elvira läuft im Kreis, hüpft dabei mit einem Seil: „Untenbleiben bringt nichts. Man muss immer vorwärtsrennen, immer vorwärts.“ Eine typische Antwort! Das Mädchen erfüllt alle Kriterien für eine der Diagnosen unserer Zeit, die Psychiater mit vier Buchstaben abkürzen: ADHS, für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Das Phänomen der – vermeintlich – krankhaft unruhigen Kinder existiert nun schon seit zwei Jahrzehnten. Seitdem hat fast ein jeder im Feld der einschlägigen Therapeuten seine Stimme erhoben und erklärt, warum Kinder abnorm unaufmerksam sind, zerstreut und impulsiv. Und warum es immer mehr werden – oder wir immer mehr Kinder als solche wahrnehmen. Rund 500.000 Kinder sollen mittlerweile in Deutschland an ADHS leiden.

Allein eine Psychotherapeutengruppe hielt sich lange Zeit zurück: psychodynamisch arbeitende Tiefenpsychologen und Psychoanalytiker. Doch nun brechen sie ihr Schweigen. So veröffentlichte das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main die Ergebnisse einer Studie, bei der ADHS-gefährdete Kinder schon im Vorschulalter mit einem gezielten Programm erfolgreich gefördert wurden (siehe Heft 6/2007, Seite 8 bis 9). Parallel gehen die psychodynamisch orientierten Experten therapeutisch in die Offensive – und das sehr selbstbewusst. „Breite klinische Erfahrungen sprechen dafür, dass die psychodynamische Psychotherapie bei ADHS-Kindern beeindruckend effektiv ist“, sagt Annette Streeck-Fischer, Chefärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie im niedersächsischen Landeskrankenhaus Tiefenbrunn. Damit unterstützt sie eine Initiative aus Italien. Wie nirgendwo sonst hat sich dort eine Massenbewegung formiert. Über 370 Wissenschaftler, Mediziner, Psychiater und Psychotherapeuten und 125 Institutionen nehmen klar Stellung. Kernpunkte ihrer Sicht: ADHS ist keine Krankheit und darf nicht medizinalisiert werden; jedes Kind braucht seine eigene psychotherapeutische und pädagogische Therapie; psychostimulierende Medikamente sollten Ausnahme und nicht die Regel sein. Ein Vorbild für Deutschland?

Auf keinen Fall, findet die schulmedizinisch orientierte Ärzteschaft, die derlei Verdikte argwöhnisch betrachtet. Sie erkennt in erster Linie eine einzige Ursache der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen an: einen Mangel des Botenstoffes Dopamin in entsprechend defizitären Hirnstrukturen aufgrund genetisch bedingter Fehlreaktionen im Gehirn und daraus folgender Dysbalancen. Erziehungs- und gesellschaftliche Einflüsse spielen in diesem Konzept eine allenfalls untergeordnete Rolle. Reaktionen der Eltern festigen demnach nur bestimmte angeborene Verhaltensweisen.

Als Standardbehandlung empfiehlt die Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme die „multimodale Therapie“. Im Klartext: Die Kinder schlucken Medikamente, meist den unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Wirkstoff Methylphenidat. Die Medikamentenbehandlung wird ergänzt durch Aufklärung der Eltern und eine Verhaltenstherapie, die einige wichtige Symptome der Kinder korrigieren soll. „Unbeirrt und durchaus wirkungsmächtig“, erklärt der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Bernd Ahrbeck von der Berliner Humboldt-Universität, „hält der Mainstream der Hyperaktivitätsforschung an dieser einseitig biologischen Herleitung fest.“ Inzwischen stimmt sogar die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den Tenor ein.

„Zahlreiche Studien belegen, dass Methylphenidat als Wirkstoff der ersten Wahl die Symptome der ADHS deutlich verbessert“, erklärt der Kinderarzt Klaus Skrodzki von der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte. Rund 80 Prozent der mittlerweile 100.000 behandelten Kinder macht das Medikament ruhiger, rationaler und aufmerksamer. Das werten die behandelnden Ärzte als Beleg für eine erfolgreiche Therapie, im Sinne einer Medizin, die Fakten aus kontrollierten Studien fordert. Die Folge: ein rasanter Anstieg der Medikamentenverordnung. Nach Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte wurden im Jahr 2007 in Deutschland 1221 Kilogramm Methylphenidat verbraucht – 1993 waren es noch 34 Kilogramm. Steigerungsrate: 3591 Prozent!

Dabei verspricht die multimodale Therapie nicht einmal Heilung. Sie bekämpft lediglich Symptome. Und die Wirksamkeit ist nur solange belegt, solange die Kinder die Medikamente nehmen. Setzen sie die Pillen ab, geht das Leid wieder los – selbst nach jahrelangem Konsum. „Methylphenidat mag für einige Kinder nach sorgfältiger ärztlicher und psychologischer Abklärung durchaus sinnvoll sein“, sagt Ahrbeck – vor allem in akuten Situationen, wenn ein Kind von Kindergarten oder Schule ausgeschlossen werden soll. „Doch sind die Medikamente keine dauerhafte flächendeckende Lösung für eine halbe Million junger Menschen.“

Auch ist die Ursache der ADHS – die Basis der Behandlung – keineswegs so klar, wie biomedizinisch orientierte Ärzte gerne behaupten. Im Jargon der Bundesärztekammer liest sich das beispielsweise so: „Das störungsspezifische pathophysiologische Gefüge der ADHS lässt sich derzeit erst annähernd beschreiben.“ Soll heißen: Nichts Genaues weiß man nicht. Dennoch hat es die traditionelle Schulmedizin geschafft, die wenigen Indizien ins stete Bewusstsein der Bevölkerung und bis in den letzten Elternratgeber zu transportieren – verbunden mit der radikalen Abkehr vom psychodynamischen Weltbild. „Es gilt ein seltsamer Umkehrschluss“, wundert sich die Psychologin Sarah Yvonne Brandl. Weil sich durch ein Präparat, das die Dopaminkonzentration in bestimmten Hirnregionen erhöht, die Symptome bessern, erfolgt die Diagnose ADHS. Brandl: „Kopfschmerz ist ja auch keine Aspirinmangelstörung, nur weil Aspirin hilft.“ In der Tat ist die biomedizinisch-psychiatrische Sicht auf die ADHS nur eine von vielen – und ihr Wahrheitsgehalt zweifelhaft.

„Am psychiatrischen Störungsbild der ADHS verdichten sich unterschiedliche Weltanschauungen des Heilens“, bringt es Streeck-Fischer auf den Punkt. Das Modell des Mainstreams erkennt im Geschehen nur eine Person – das Kind als Opfer seines von Geburt an defekten Gehirns. In den Augen der Psychodynamik hingegen entwickelt sich die Störung, weil die Gene des Kindes mit frühen Pflegepersonen, Familie und Gesellschaft im Dialog stehen. Neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften stützen dieses Modell. Sie beschreiben die enorme Plastizität des Gehirns, das sich nutzungs- und erfahrungsabhängig aus- und umformt. Demnach prägen frühe Erfahrungen in den ersten Lebensjahren die Verbindungen zwischen Nervenzellen. Die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, der Austausch von Emotionen, ein anregendes Milieu, aber auch Stress und negative soziale Erfahrungen verändern die Genaktivitäten im Gehirn – so der Neurobiologe und Nobelpreisträger Eric Kandel. „Insofern erscheint die bei einigen ADHS-Kindern gefundene besondere neuronale Aktivität in einem besonderen Licht“, betont Bernd Ahrbeck. Das vom Mainstream geprägte fatalistische Bild einer Erbstörung ist fehl am Platz. Beispiel: der postulierte Dopaminmangel. Versuche mit Affen zeigen, dass ein niedriger sozialer Rang den Dopaminspiegel der betroffenen Tiere gegenüber ranghohen Affen senkt. Sobald ein Tier in der Hierarchie aufsteigt, erhöht sich auch der Wert des Botenstoffs – Erkenntnisse, die auf den Menschen übertragbar sind. „Das Dopamindefizit von ADHS-Kindern könnte also durch ihre gesellschaftliche Außenseiterposition begründet sein“, folgert Annette Streeck-Fischer.

Weiteres Beispiel: Bestimmte Hirnregionen sind bei hyperaktiven Mädchen und Jungen verkleinert, wie Studien andeuten – was Vertreter der gängigen ADHS-These als Indiz für ihr Modell werten. „Vergleichbare und oft noch massivere Störungen in der Hirnentwicklung wurden aber auch bei vernachlässigten und missbrauchten Kindern gefunden“, betont Psychotherapeutin Streeck-Fischer – also durch äußere Einflüsse begründet. Selbst eine Erblichkeit von 90 Prozent würde nicht ausschließen, dass sich Umweltfaktoren auf die Entwicklung einer Störung wie ADHS massiv auswirken. Derlei Überlegungen ignoriert die biopsychiatrisch geprägte Ärzteschaft.

Psychotherapeuten aber bewerten jede Diagnostik kritisch, die das Kind auf seine Symptome reduziert, erklärt Ahrbeck. Der Berliner Psychologe sieht einen plausiblen Zusammenhang zwischen ADHS und Zeitgeist. Während die explosionsartige Zunahme der Fälle seit den 1990er Jahren von der Schulmedizin mit einer damaligen Unterversorgung erklärt wird, erkennt Ahrbeck einen kulturtheoretischen Zusammenhang. Das Leben ist unruhiger und hektischer geworden, der Kommunikationsfluss schneller, flüchtiger und kurzlebiger. Wer nicht verlieren will, muss mobil bleiben, wer auf Vertrautes und Beständiges baut, kann rasch Nachteile erleiden.

Gewollt sind hochflexible Persönlichkeiten, die sich schnell auf Neues einlassen und dieses wieder rasch aufgeben können, um sich den nächsten Anforderungen zu stellen. Handys, Computer, Fernsehen überfluten uns mit ständig neuen Reizen. Das Gebot dieser medial geprägten Welt lautet: Bewegung! Beziehungen sind flüchtiger denn je. Unter diesem ständig hohen Erregungsniveau wird es zunehmend schwieriger, sich auf einzelne Inhalte einzulassen. So sinkt die Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit. Die einprasselnden Reize erzeugen zwar noch Erregung, hinterlassen aber kaum innere Spuren, die über den Augenblick hinausgehen. „Erregung“, sagt Ahrbeck, „tritt an die Stelle von Bedeutung.“ Die Beschäftigung mit innerem Erleben bleibt auf der Strecke; seelische Prozesse werden dadurch bedroht.

„Einerseits“, sagt Ahrbeck, „reagieren Kinder auf diese Zeitumstände zunehmend sensibel“ – teils so intensiv, dass ihr Verhalten am Ende pathologisch erscheint. Andererseits beeinflusst der kulturelle Wandel auch die Persönlichkeit der Eltern und verstärkt und verändert die Konflikte zwischen den Erwachsenen und ihrem Nachwuchs. In diesem Spannungsfeld sieht die Psychoanalyse die ganze persönliche Lebensgeschichte des Kindes als Ursache einer ADHS; dieses Spannungsfeld erklärt auch die Zunahme der Fälle und die sensible Wahrnehmung unruhiger Kinder durch eine Gesellschaft, die selbst förmlich zappelt.

„Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität stellen kein einheitliches diagnostisches Bild und schon gar keine Krankheit dar“, meint auch Marianne Leuzinger-Bohleber vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt. Die Grenzen zwischen „normal“ und „pathologisch“ sind fließend; die Diagnose nach den psychiatrischen Diagnoseschlüsseln ICD-10 oder DSM-IV genügt nicht. Persönlichkeitsmerkmale, emotionale Beziehungen in der Familie, unbewusste Erinnerungen an traumatische Erlebnisse vermögen eine ADHS zu erzeugen. „Nie“, so die Psychologin, „können wir von einer monokausalen Ursache ausgehen.“

Verschiedene Beziehungsschicksale führen zum ähnlichen Bild hyperaktiven-aufmerksamkeitsgestörten Verhaltens. Allerdings teilen sie eine gemeinsame schmerzliche Früherfahrung: Entweder kam es zu Traumatisierungen durch äußere Einflüsse wie Unfälle, Krankheiten oder Krieg. Oder die Mädchen und Jungen haben keine vertrauensvolle Beziehung zu Bezugspersonen entwickeln können oder eine wichtige Bezugsperson verloren. So nehmen Gefühle der Angst und der Bedrohung überhand, innere Spannungen entstehen, die sich wegen der unsicheren Bindungen nicht bewältigen lassen. Folge: eine unzuverlässige innere Objektwelt.

Die Kinder finden in sich keinen Halt, suchen hilflos nach Orientierung und wenden sich in großer Unruhe nach außen, mit überschießender Motorik und ständig wechselnder Aufmerksamkeit – in der vergeblichen Hoffnung, das vermisste haltende und sichernde Gegenüber doch noch zu finden. Aber diese Suche scheitert. Deshalb bildet sich weder ein stabiles Selbst noch ein ausreichender Reizschutz, der vor inneren und äußeren Gefahren bewahrt. Die Kinder können sich kaum abgrenzen und die Welt symbolisch ordnen. Schlimmer noch: Sie sind unfähig, ihr Erleben sprachlich auszudrücken, bleiben innerlich leer und heimatlos, sind sich selbst fremd. „Kein Wunder“, sagt Ahrbeck, „dass diese Kinder so unkoordiniert und sprunghaft handeln, ohne ersichtliche Leitlinie und inneren Faden, fast automatenhaft, ohne erkennbaren Bezug zu sich selbst und anderen Menschen.“

In der Mannheimer Risikokinderstudie – sie verfolgt seit 1986 die Entwicklung von über 360 Kindern und deren frühe Belastungen – zeigte sich: Derart regulationsgestörte Kinder entwickeln häufig eine ADHS. Aus ihrer Erfahrung als Gutachterin berichtet Annette Streeck-Fischer, dass bei Kindern mit psychiatrischer ADHS-Diagnose die psychodynamischen Diagnosen von narzisstischen Störungen über Depressionen, Angsterkrankungen, Borderlinestörungen bis hin zu Früh- oder Anpassungsstörungen reichen. „Oft“, sagt die Psychologin, „fehlte der Vater, oder er trat kaum in Erscheinung.“ Die Mütter von ADHS-Kindern bauen trotz großen Bemühens häufig keine rechte Beziehung zum Nachwuchs auf, sind mitunter depressiv, setzen den Kindern entweder zu viele oder zu wenige Grenzen. „Da gibt es einige Ursachen, die für die dominierende biopsychiatrische Richtung der ADHS-Forschung keine Rolle spielen“, resümiert Streeck-Fischer.

Entsprechend anders im Vergleich zur multimodalen Therapie gestaltet sich die Behandlung. Psychodynamisch arbeitende Therapeuten gehen davon aus, dass ADHS entsteht, weil ein Kind im Kontext seiner Umwelt in Probleme geraten ist. Deshalb steht die Aufklärung über das Kind, über seine Beziehungen und deren kulturelle Einbettung im Vordergrund. Die Psychoanalyse als „kohärenteste und intellektuell befriedigendste Sicht der menschlichen Seele“ (Nobelpreisträger Kandel) bietet sich an, um die Kinder zu verstehen. Sie kann, so Marianne Leuzinger-Bohleber, „die Symptome als Produkte komplexer unbewusster und bewusster Faktoren entschlüsseln, basierend auf spezifischen lebensgeschichtlichen Erfahrungen und genetischen und neurobiologischen Faktoren.“ Bis hin zur Pubertät, das zeigen Studien des Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther, beeinflussen Beziehungs- und Umwelterfahrungen auch das Dopaminsystem. „Diese Chance wird durch die Medikamente verbaut“, erklärt Leuzinger-Bohleber, für die Psychostimulanzien nicht geeignet sind, die Ursachen der seelischen und Verhaltensprobleme zu beseitigen.

Gleichwohl ist der psychodynamische Weg für den jungen Patienten und auch die Therapeuten steinig. Geduld ist gefragt, weil ADHS-Kinder oft keine Beziehung aufbauen können. Die Mädchen und Jungen sind innerlich schwer erreichbar und sprunghaft, laufen weg, wollen den Therapeuten sprechen und wieder nicht. Zudem sind die ADHS-Kinder häufig neidisch auf Geschwister und andere und kämpfen um Zuneigung zu Eltern oder Betreuern. Doch der Aufwand lohnt fast immer, wie Annette Streeck-Fischer feststellt: „Die Kinder werden wesentlich ruhiger und aufmerksamer.“

Eine kontrollierte Untersuchung zur Effektivität läuft derzeit am Sigmund-Freud-Institut. Aufgrund der bislang fehlenden Wirksamkeitsstudie nach schulmedizinischem Ideal sind psychodynamische Interventionen nach Ansicht der Bundesärztekammer „nicht evidenzbasiert“, mithin unbewiesen und werden in eine Kategorie etwa mit der Bachblütenbehandlung gesteckt. Das erschwert ein therapeutisches Umdenken – zumal die multimodale Therapie mit Medikamenten an der Spitze einfache Erklärungsmuster und klare Handlungsstrategien anbietet. Eltern und Angehörige fühlen sich so entlastet. In den Hintergrund treten Fragen, was schiefgelaufen sein könnte und ob die Erziehung den Bedürfnissen des Kindes gerecht wurde. „Durchaus verständlich, angesichts des Störungspotenzials der Kinder“, wie Leuzinger-Bohleber findet. Doch die Medikamente signalisieren, dass das Kind nur dann in Ordnung ist, wenn man seinem Gehirn eine permanente chemische Nachhilfe erteilt. Zwar mag die psychodynamische Sicht der Dinge die Eltern und das restliche psychosoziale Umfeld des Kindes belasten. Doch sie bietet die Perspektive, die Probleme zu überwinden und die Ursachen an der Wurzel zu packen. Ahrbeck: „Wir sehen jedes einzelne Kind als Akteur seiner eigenen Entwicklung.“

Wie die kleine Elvira. Nach vielen Stunden Therapie hat das Mädchen langsam Vertrauen zu Psychotherapeut Frank Dammasch gefasst. Und verrät ihm, dass sie in der Schule immer unkonzentriert sei, weil sie an ihren Vater denken müsse, der die Familie verlassen hat. Mit ihrer Hypermotorik wehrt Elvira jede Gefahr ab, an den traumatisch erlebten Verlust erinnert zu werden. Doch die Therapie zeigt schließlich Früchte. Das Mädchen, das immer wieder innere Berge erklommen hat und immer wieder ohne Reflexion fiel, findet für sich einen Kompromiss: „Man kann doch auch hochklettern und dabei überlegen.“

Klaus Wilhelm


Mit freundlicher Genehmigung des Beltz-Verlages